Trauma & Nervensystem

Die Polyvagaltheorie erklärt: Eine neue Sicht auf das autonome Nervensystem

By April 4, 2020 April 18th, 2023 One Comment
Polyvagal-Theorie

Die Polyvagaltheorie ist wertvoll für jeden, der ein Nervensystem hat. Diese Theorie über das autonome Nervensystem gibt uns eine gemeinsame Sprache an die Hand, mit der wir unsere Reaktionen auf das Leben aus einer neuen Perspektive betrachten können. Denn das autonome Nervensystem bildet die Grundlage unseres Erlebens. Deb Dana bringt es so gut auf den Punkt wenn sie erklärt:

„Die polyvagale Perspektive macht uns klar, dass Handlungen automatisch erfolgen, adaptiv zu verstehen sind und vom ANS tief unter dem Radar des Bewusstseins initiiert werden. […] Ein Funktionsprinzip des ANS lautet:„ Jede Reaktion ist eine Handlung im Dienste des Überlebens.” Ganz gleich, wie unpassend eine Handlung von außen wirken mag, aus autonomer Perspektive ist sie immer eine adaptive überlebenssichernde Reaktion.”

Wenn du etwas über die Polyvagal-Theorie lernst, lernst du etwas über die Suche nach Sicherheit (Deb Dana, 2019)

Die Polyvagaltheorie erklärt:

  • warum gefühlte Sicherheit die Grundlage für alles ist.
  • wieso und wann wir uns verbunden und sicher fühlen.
  • wieso Bindung so wichtig für uns ist.
  • welche neurophysiologischen Mechanismen wirken, wenn wir uns ängstlich oder depressiv fühlen.
  • Trauma aus neurobiologischer Perspektive.

Die „klassische“ Theorie des autonomen Nervensystem (ANS) und die Polyvagaltheorie

Kennst du die Redewendungen „Fight and Flight“ und „Rest and Digest“ im Zusammenhang mit dem ANS? Sie spiegeln das traditionelle Verständnis des ANS wieder. Der Parasympathikus hat jedoch mehr Aufgaben als „Rest and Digest“ und die Redewendung trifft nur auf einen Zweig des Vagus, den wichtigsten Nerv des Parasympathikus, zu. Es gibt eine neue Theorie über das ANS, die unglaublich viel Erklärungskraft hat – die Polyvagaltheorie.

Bevor ich die Polyvagaltheorie vorstelle, erkläre ich (sehr grob) die klassische Theorie, wie diese zum Beispiel noch in der Schule vermittelt wird.

Das ANS besteht, so das klassische Modell, aus  zwei Gegenspielern – dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Das ANS steuert unbewusste Vorgänge wie die Funktion unserer Organe. Der Sympathikus wird bei Gefahr aktiviert. Heute sind wir selten in lebensbedrohlichen Situationen. Unser System unterscheidet jedoch nicht zwischen lebensbedrohlicher Gefahr oder Leistungsdruck. In einer Situation, in der wir viel leisten müssen, wird der Sympathikus also aktiv und macht uns mobil – bereit für den Kampf. Er aktiviert die Lungenfunktion, die Pupillen weiten sich, die Schweißdrüsen werden aktiviert, die Blutgefäße erweitert, der Puls geht hoch. Der Parasympathikus ist der Gegenspieler und für die Entspannung unseres Systems zuständig. Der Körper fährt runter, die Verdauung wird angeregt (enterisches Nervensystem), wir verspüren Harndrang. 

Das klassische Modell betrachtet  diese Teile des ANS als Gegenspieler. Einer herrsch immer vor  – entweder bin ich entspannt (Parasympathikus) oder aktiv (Sympathikus). 

Die Polyvagal-Theorie 

Der wichtigste Nerv des Parasympathikus ist der Vagus. Stephen Porges, Begründer der Polyvagal-Theorie,  unterteilt den Vagus in einen vorderen (ventralen, evolutionär jüngeren) und einen hinteren (dorsalen, älteren) Teil. Ist der ventrale Teil angenehm aktiv, dann haben wir Zugang zu unseren höheren Hirnfunktionen, sind lösungsorientiert, empathisch, kommunikativ – fühlen uns verbunden. Porges nennt dieses System „SES“ (Social-Engagement-System)

Dieses System steuert zum Beispiel die Augenlider, die Mittelohrmuskeln, die Kehlkopfmuskeln, die Kaumuskeln und die Muskulatur, die für das Kippen und Drehen des Kopfes verantwortlich ist. Es ermöglicht diesem System, mit unserer Umgebung in Verbindung zu treten. Wir erkennen die Betonung, den Rhythmus, die Intonation menschlicher Stimmen und können den Gesichtsausdruck unseres Gegenübers beobachten und einordnen. Wir sind flexibel und können positive Bindungen eingehen.

Das ANS besteht laut der Polyvagaltheorie aus drei, einander beeinflussenden, Teilen. Das Besondere ist die Unterteilung des Vagus in den ventralen und den dorsalen Ast.

Der ventrale Vagus  ist noch nicht fertig ausgebildet, wenn wir auf die Welt kommen und ob er sich gut entwickelt, hängt davon ab, ob wir Eltern haben, die genug Ressourcen haben und uns liebevoll umsorgen. 

Die Polyvagaltheorie ermutigt uns zu erkennen, dass wir die Möglichkeit haben, uns zu verändern, wenn wir uns frei und sicher fühlen.

Wenn du keinen guten Start in dein Leben hattest, oder dich momentan nicht aufgeschlossen, sondern einsam und isoliert fühlst, bedeutet das nicht, dass du einen „Mangel“ hast. Unser Gehirn verändert sich ständig (auch das wissen wir noch nicht so lange) und es ist möglich, eine traumatisiertes, unruhiges oder lethargisches System langsam wieder zu einem natürlichen fließen und schwingen zu bringen.

Der dorsale Vagus

Wenn unser SES momentan nicht gut funktioniert und Kampf und Flucht keine Aussicht auf Erfolg sind, dann resignieren wir. Biologisch gut zu vergleichen mit der „Schreckstarre“ im Tierreich.

Übrigens: Wenn das SES aber aktiv ist und der Sympathikus aktiv wird und das Gehirn die Situation als sicher einordnet, dann entstehen zum Beispiel verspielte Situationen oder Intimität.  

Übersicht: Merkmale eines aktiven ventralen und dorsalen Vagus und Sympathikus 

Hinweis: Die Übersicht ist grob und nicht vollständig.

  • Der ventrale (jüngere) Vagus ist aktiv: Wir haben Zugang zu unseren höheren Hirnfunktionen und sind lösungsorientiert, empathisch, kommunikativ – fühlen uns verbunden.
  • Der dorsale Vagus ist aktiv: Regeneration und Verdauung
  • Bei dorsale Vagus ist überaktiv: Immobilisation, Resignation, Lethargie,  Depression, Lähmung, wir stellen uns tot, dissoziieren (abspalten von uns selbst – unseren Gefühlen, unserem Körperbefinden)
  • Der Sympathikus ist aktiv: Kampf und Flucht – uns stehen weniger kognitive Fähigkeiten zur Verfügung, Wir fühlen uns schnell angegriffen, leistungsorientiert, ängstlich, schreckhaft, Wut
  • Sympathikus und ventraler Vagus aktiv: Neugier, Aufregung, Lust

Obwohl wir es nicht bewusst mitbekommen, wacht das ANS permanent über uns. Es sammelt ständig Rückmeldung aus der Umgebung und prüft, ob wir in Lebensgefahr sind oder in Sicherheit. Wenn dieser Mechanismus gut funktioniert, dann „sind wir bei uns“, wissen, wer wir sind, was wir brauchen, ob es uns gut geht. Stephen Porges prägte dafür den Begriff „Neurozeption“. 

Ein gesundes Nervensystem befindet sich in ständigem fließen. Ein Trauma, Störungsbilder (wie schon benannt) oder auch der Konsum von Drogen und die Nacht durchmachen stören dieses natürliche fließen. Das natürliche Zusammenspiel von Sympathikus (Wachheit, Aktivität) und Parasympathikus (Gefühl von Verbundenheit, erholsamen Schlaf, Entspannung) ist in seiner Funktion gestört. Das Nervensystem „hängt“ und es fällt uns deswegen schwer, uns selbst zu regulieren. Entspannung, Aufmerksamkeit, das Gefühl, in sich zuhause zu sein, ist dann gefühlt nicht mehr da oder wir befinden uns in einem Zustand der Erschöpfung.

Was bedeutet die Polyvagaltheorie für Yogalehrer und Körpertherapeuten?

  • Sicherheit als Grundlage: Die Polyvagal-Theorie erklärt, wieso wir uns „mit der Welt“ verbunden fühlen können und wie wichtig ein Gefühl von Sicherheit dafür ist. 
  • Verstehen: Verständnis ist nicht alles, doch kann sehr entlastend sein. Die Polyvagal-Theorie erklärt Trauma, Depression und Angst auf neurobiologischer Grundlage.
  • Arbeiten auf Grundlage der Polyvagal-Theorie: Die Polyvagal-Theorie bietet uns einen neurophysiologischen Bezugsrahmen für die Arbeit mit unseren Klient*innen.
  • Sicherheit & Verbundenheit üben: Wir können uns und unseren Klient*innen durch körperorientierte Methoden helfen, sich sicher und verbunden zu fühlen.

Was kannst du tun um dich sicher und verbunden zu fühlen?

  • Die Welt erkunden signalisiert deinem System, das du in Sicherheit bist. Deswegen ist es zum Beispiel so beruhigend, das Meer zu beobachten. Es ist das Gegenteil von „defensivem Verhalten“, welches durchaus angebracht sein kann, wenn du zum Beispiel über die Straße gehst und den Verkehr im Blick behalten musst.
  • Verbringe Zeit mit Menschen, bei denen du ein gutes Bauchgefühl hast und denen du vertraust. Meide Personen, in deren Gegenwart du dich nicht wohl fühlst. Das klingt plausibel, aber nicht immer hören wir so gut auf unser Bauchgefühl.
  • Bewegung: Trauma, Depressionen und Ängste sind körperlich. Du kannst dich durch sanfte, fließende Bewegungen beruhigen. Einen Artikel über traumasnensibles Yoga findest du hier.

Wie hat dir der Artikel gefallen? Hast du Fragen? Ich freue mich, wenn du dich bei mir meldest.

Loredana

Quellen

Deb Dana: Die Polyvagalheorie in der Therapie
Stanley Rosenberg: Der Selbstheilungsnerv

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