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Zusammenfassung: „In the Realm of Hungry Ghosts” von Gabor Maté

By September 12, 2021 November 27th, 2022 2 Comments

Wird Sucht genetisch vererbt? Wenn ja: was begünstigst dessen Ausbruch? Welche Menschen und Geschichten stecken hinter der Sucht? Kann man nur von Drogen abhängig sein oder fallen auch andere Dinge darunter? In seinem Buch „In the Realm of Hungry Ghosts – Close Encounters with Addiction” geht Gabor Maté auf diese Fragen ein. Er spricht von einem „Addiction Process”, der allen Süchten zugrunde liege. Substanzabhängigkeit, impulsive Verhaltensweisen, wie übermäßiges Arbeiten oder die Sucht nach Anerkennung, würden sich dabei nur graduell unterscheiden. Allen Süchten liegt, laut Maté, der selbe Mechanismus zugrunde.

Although the form and focus of addiction may vary, the same set of dynamics is at the root of them all. […] Addictions are not a collection of distinct disorders but the manifestation of and underlying process that can be expressed in many ways. […] The distincts are only a matter of degree.”

Sucht sei dabei immer der Versuch, bestehendes Leid zu lindern. Maté schlussfolgert deswegen: „The first question is not „Why the addiction?” but „Why the pain?”

Far more than a quest for pleasure, chronic substance use is the addict’s attempt to escape distress. From a medical point of view, addicts are self medicating conditions like depression, anxiety, post-traumatic stress or even ADHD […]. Addictions always originate in pain, wether felt openly or hidden in the unconscious.”

Welche neuronalen Kreisläufe sind am Suchtprozess beteiligt?

Vier Kreisläufe sind, laut Maté, beteiligt: Unser interner Opioid-Apparat, das Dopamin-System, das Selbstregulations-System im Kortex und das Stressreaktionssystem („stress-response mechanism”)

Der Opioid-Apparat und Enorphine

Die Neurotransmitter unseres eigenen Opioid-Systems sind Endorphine. Substanzen wie Morphium passen perfekt in unsere eigenen Opium-Rezeptoren. Und Endorphine haben die selbe Wirkung wie zum Beispiel Morphium: Sie lindern körperliche und emotionale Schmerzen. Außerdem sind Endorphine wichtig für die Regulation unseres autonomen Nervensystems. Sie beeinflussen die Stimmung, den Schlaf, den Blutdruck und die Körpertemperatur. Einer der wichtigsten Funktionen: Endorphine ermöglichen die Bindung zwischen Mutter und Kind. Die körpereigenen Opiat-Rezeptoren sind dabei die neurochemische Grundlage für Bindung. Dabei setzt auch alles Endorphine frei, was in uns die Erwartung hervorruft, dass Leid gelindert wird. Gleichzeitig werden diese Rezeptoren auch von Substanzen wie Alkohol, Kokain oder Marijuana getriggert. Je weniger gut ausgebildet unser eigenes Opioid-System, desto anfälliger seien wir für alles, was Endorphine freisetzt.

„Cocaine, Dopamine and Candy Bars” Dopamin und unser Belohnungssystem

Drogen wie Nikotin, Speed, Kokain oder Substanzungebundene Abhängigkeiten (Arbeit, Anerkennung, Sex, Spielsucht) wirken in unserem Belohnungszentrum. Dessen Neurotransmitter ist Dopamin. Das Belohnungssystem reagiert außerdem auf Verstärkung. Menschen, Situationen, Orte, die mit der Sucht in Verbindung stehen steigern ebenfalls die Ausschüttung von Dopamin. Das kreiere auf neurochemischer Basis einen starken Anreiz, dem wir noch schwieriger widerstehen könnten.

Die Forschung suggeriert, so Maté, dass einige Menschen über weniger Dopamin verfügen. Dies sei ein Nährboden für Sucht: „When our natural incentive-motivation system is impaired, addiction is one of the likely consequences.”

„How The Addicted Brain Develops”

Warum sind einige Menschen anfälliger für Suchtverhalten? Weil wir feinfühlige Wesen sind und anfällig für frühkindliche Prägungen. Doch was ist genetische Veranlagung und was entsteht aufgrund unserer Entwicklung? Natürlich spielen Gene eine große Rolle bei der Entwicklung unseres Gehirns. Doch die Genexpression, also welche Geninformation zum Ausdruck kommt, hänge zu einem sehr, sehr großen Teil von Umwelteinflüssen ab.

Far from being the autonomous dictators of our destinies, genes are controlled by their environment, and without environmental signals they could not function.

Wie lässt sich das erklären? Maté erklärt: Nachdem wir die Fähigkeit erlangten aufrecht zu gehen, konnten wir unsere Hände vielseitig verwenden. Dies erforderte jedoch ein größere Gehirnkapazität. Gleichzeitig erforderte der aufrechten Gang ein schmaleres Becken – schwierig für die Geburt von großen Schädeln und großen Gehirnen. Würde unser Gehirn so weit wachsen, wie nötig, wäre das Risiko bei der Geburt schlichtweg zu hoch. Die Natur hat sich einen Kompromiss einfallen lassen: Wir kommen mit einem relativ unterentwickelten Gehirn auf die Welt. 3/4 des Gehirns entwickelt sich nach der Geburt. Eine wahnsinnige Leistung, die störanfällig ist. Außerdem kann die Entwicklung des Gehirns schon im Mutterleib beeinträchtigt werden. Maté zitiert hier Daniel Siegel:

For the infant and young child, attachment relationships are the major environmental factors that shape the development of the brain during it’s perios of maximal growth … Attachment establishes an interpersonal relationships that helps the immature brain use the mature functions of the parent’s brain to organize its own process.

Das Stressreaktionssystem

Durch die liebevolle emotionale Interaktion zwischen Kind und Bindungsperson werden natürlich Opioide ausgeschüttet. Die Bindung wird gestärkt und die Opioid und Dopamin Kreisläufe im Gehirn gefestigt. Stress hingegen verringere die Anzahl an Opioid- und Dopamin Rezeptoren.

A child’s capacity to handle psychological und physiological stress is completely dependent on the relationships with it’s parent(s). Infants have no ability to regulate their own stress apparatus, and that’s why they will stress themselves to death if they are never picked up. We aquire that capacity gradually as we mature – or we don’t., depending on our childhood relationships with our caregivers. A responsive, predictable nurturing adult plays a key role in the developement of our healthy stress-response-neurology.

Fazit

Im ersten Teil von „In the Realm of Hungry Ghosts” illustriert Gabor Maté sehr anschaulich von seiner Arbeit in Vancouvers Downtown Eastside. Dort arbeitete er jahrelang mit Suchtkranken Menschen zusammen. Er teilt seine Jahreslange Erfahrung und erläutert im Verlauf des Buches eindrucksvoll den Zusammenhang zwischen Sucht, Stress und frühkindlicher Prägung.

„Passion is generous because it’s not ego-driven, addiction is self-centred. Passion gives and enriches; addiction is a thief. Passion is a source of truth and enlightenment; addictive behaviours lead you into darkness.”

Zitate aus „In the Realm of Hungry Ghosts”

„There are no new disorders here, only new targets for the universal and age-old addiction process, new forms of escape.”

„The circumstances that promote dispair – and potentially therefore addiction – are, with each decade, more and more entrenched in the industrialized world, from the East to the West: more isolation and loneliness, less communal contact, more stress, more economic insecurity, more inequality, more fear and, ultimately, more pressure on and less support for young parents.”

2 Comments

  • Mirijam says:

    Ich kann nur alles unterstreichen, aus eigener Erfahrung, was der Autor schreibt. Ich beschäftige mich auch schon lange theoretisch mit dem Thema Sucht und finde seine ganzheitliche Sichtweise, auch diejenige unserer toxischen Kultur, sehr treffend. Danke für diesen Post.

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