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Angst vor der Arbeit: Wieso feinfühlige Menschen flexible Arbeitsstrukturen brauchen

By June 8, 2023 No Comments
Home Office

Viele von uns definieren sich darüber, wie viel sie leisten. Zumindest in Deutschland habe ich das Gefühl, dass Leistung einer der größten Treiber ist. Die meisten von uns wollen „etwas erreichen“. Und die Coaching-Industrie animiert uns immer und immer wieder dazu, unser volles Potenzial zu leben. Es existieren zahllose Webinare, Workshpos, Reels, TikToks und YouTube-Videos mit der Botschaft: Du kannst großartig werden. Wenn du dich genug anstrengst.“ Auch wenn viele von uns aus vielen Gründen höhnisch in die USA schauen, haben wir die „American Dream Mentalität ziemlich gut adaptiert. Doch bevor wir dem Optimierungs-Wahn der Coaching-Industrie verfallen, finden sich viele von uns in einem toxischen Arbeitsumfeld, das nicht wenige von uns krank macht.

  • Psychische Erkrankungen derzeit die drittwichtigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit in der Bundesrepublik. [1]
  • Und hochgerechnet auf alle gesetzlich krankenversicherten Beschäftigten ergeben sich für 2021 rund 194.000 Burn-out-Betroffene mit kulminierten 4,8 Millionen Krankheitstagen. [2]

Wer unter einem akuten Erschöpfungszustand leidet, bekommt beim Hausarzt eine andere Diagnose. Oft müssen Arbeitnehmer sich erst ab dem dritten Tag krankmelden. Und wie sieht es mit privat Versicherten aus? All diese Faktoren lassen auf eine deutlich höhere Dunkelziffer schießen.

Meine Zeit in der klassischen Arbeitswelt

Ich habe einige Zeit in einer Marketing-Agentur gearbeitet. Und wurde 2 Jahre später krankgeschrieben. Die Diagnose: Akuter Erschöpfungszustand. Daran war nicht das Unternehmen schuld. Doch dessen Strukturen trugen auch nicht dazu bei, dass ich als Mensch aufblühen konnte. Im Gegenteil. In meinem (zum Glück letzten) Bürojob habe ich mehrmals angesprochen, dass ich gerne mehr Homeoffice machen würde. Weil es mir dann besser geht. Weil ich so besser nachdenken kann. Und mehr Spaß an der Arbeit habe. Das Unternehmen war kaum offen dafür. Zähneknirschend wurden mir ein paar Tage zugestanden. Doch ich habe mich dabei mehr wie ein sonderbarer Exot gefühlt. Ich, und auch mein alter Arbeitgeber, haben mit meiner mentalen Gesundheit bezahlt. Mir ging es zunehmend schlechter. Bis mein Körper sich das geholt hat, was er braucht: Pause, Selbstbestimmung und Zeit. Am Ende hatte ich jeden Sonntag Angst vor Montag. Ich konsumierte mehr. Weil ich wenigstens irgendetwas von meinem hart verdienten Geld haben wollte. Ich erkaufte mir den Dopamin-Spiegel, den es braucht, um zur Arbeit zu gehen. Und Spannungen im Team, unausgesprochene Bedürfnisse, hohe Anforderungen und die utopische – hier passt das Wort – Trennung von Arbeitsmensch und Privatmensch ließen meinen Cortisol-Spiegel ansteigen.

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In vielen Unternehmen ist kein Raum für die emotionale Realität der Mitarbeitenden

Unsere Arbeit fungiert als Brennglas für unseren eigenen Charakter. Unsere Prägungen. Und unser Bindungsverhalten. Und zwar aufgrund der Menschen, mit denen wir im Kontakt sind. Im Kontakt wird uns gespiegelt, wer wir sind. Was uns wichtig ist. Wir können hier genauso getriggert werden, wie in unserer Freizeit. Deswegen empfinde ich es paradox, dass in vielen Unternehmen kein Raum für die emotionale Realität der Mitarbeitenden ist. Natürlich bekleiden wir verschiedene soziale Rollen. Und wir passen unser Verhalten entsprechend an. Zu unserem eigenen Schutz. Denn es kann auch schön sein, bei der Arbeit eine andere Facette von sich zeigen können. Doch oft ist in Unternehmen kein Raum für so etwas Profanes, gefährliches und viele Führungskräfte überforderndes wie Emotionen. Es ist schön, wenn wir unsere Motivation, Inspiration und unser Netzwerk mit Unternehmen teilen. Doch wenn wir zu ehrlich, zu verletzlich und zu bedürftig sind, dann fehlt im operativen Tagesgeschäft oft die Zeit. Und ich möchte hier überhaupt kein Führungskräfte-Bashing betreiben. Viele Menschen in leitenden Positionen befinden sich selbst in einem engen Korsett aus KPIs, Anweisungen von noch weiter oben oder sind einfach so wenig mit sich selbst in Kontakt, dass kein Raum für Mitgefühl und Innovations-Geist besteht.

So arbeite ich heute

Heute arbeite ich flexibel, zum großen Teil ortsunabhängig und selbstorganisiert. Denn ich habe die starren Strukturen der meisten Unternehmen einfach nicht ausgehalten. Ich weiß: Das ist nicht für jeden etwas. Einige Menschen freuen sich darüber, mal ein paar Stunden ohne Kind und Kegel zu sein. Viele Menschen schätzen das Büro als Ort sozialen Austauschs. Ich als feinfühlige Person bin besonders leistungsfähig, wenn wir dieses Wort überhaupt verwenden wollen, wenn ich frei, flexibel und selbstbestimmt arbeiten kann. Gleichzeitig ist das etwas, wovon auch Familien profitieren können. Eigentlich profitiert von Flexibilität jede Person, die ein eigenes Leben und einen eigenen Charakter hat. Also irgendwie alle. Ich liebe es, in meinem Rhythmus leben zu dürfen. Und ich denke nicht, dass das ein Privileg sein sollte. Wir stecken so tief im Neoliberalen-Leistungsstruktur-Sumpf, dass wenige Menschen sich trauen, über den Status Quo hinaus zu träumen. Von 4-Tage-Woche bis unbegrenzte Urlaubstage über das bedingungslose Grundeinkommen: Es gibt so viele Ansätze, die uns zu glücklicheren und freieren Menschen machen könnten. Und sie sind wirtschaftlich machbar (Wenn es um die Durchsetzung geht: Das ist ein anderes Thema). Es ist weder so, dass solche Modelle wirtschaftlich utopisch sind, noch liegen wir alle nur noch faul in der Ecke herum, wenn wir nicht arbeiten. Am Ende ist mehr Freiheit , und das ist der Gipfel der Perversion, gut für die Wertschöpfung von Unternehmen. Und damit gut für unsere heiß geliebten Kapitalismus. Also, worauf warten wir noch?

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